Echte Edizine

Es gibt zwei Arten, aus einem Kunstwerk nicht ganz schlau zu werden. In den meisten Fällen ist es die erste, eher unproduktive Form, bei der einen die Arbeit völlig im Unklaren, aber auch kalt lässt. Wer sich viele Ausstellungen ansieht, gerade auch in kleineren Galerien oder Projekträumen, wo Vermittlungsarbeit oft ein Fremdwort ist, kennt das Phänomen: Arbeiten, die entweder tatsächlich unschlüssig und ungenau sind, oder sich einfach kein bisschen darum bemühen, ihren Betrachtern einen Einstieg zu ermöglichen. Eigentlich gut, wenn diese Form künstlerischer Arroganz einen kalt lässt, im schlechteren Fall kann sie nämlich auch richtig auf die Nerven gehen.

Es gibt noch eine andere, produktive Art, von einem Kunstwerk im Unklaren gelassen zu werden. Das ist diejenige, bei der man vom einer Arbeit regelrecht in Unruhe versetzt wird, ohne dass einem wirklich klar wird, warum. Zu diesen Arbeiten gehören für mich die der jungen Hamburger Künstlerin Christiane Blattmann. Erst jüngst waren sie wieder im Rahmen der Ausstellungen der „Neue Kunst in Hamburg e.V.“ zu sehen, einem Verein, der alle zwei Jahre Reisestipendien an Hamburger Künstler vergibt. Die Arbeiten, die diesen Reisen folgen, werden anschließend in den Galerien der Admiralitätsstraße gezeigt, wo sie sich mittlerweile zum wahren Highlight im Ausstellungsprogramm entwickelt haben. Christiane Blattmann war in der Multimillionenmetropole Mexico City, um, wie sie auf der Webseite des Vereins zitiert wird, ihr „künstlerisches Arbeiten an einen Ort der Desorientierung zu verlegen.“

Installation von Christiane Blattmann beim Rundgang der Stipendiaten von Neue Kunst in Hamburg e.V.

Installation von Christiane Blattmann beim Rundgang der Stipendiaten des Vereins Neue Kunst in Hamburg

Das Ergebnis war auch für die Betrachterinnen und Betrachter desorientierend, aber, wie gesagt, auf fesselnde Weise. In den Räumen der Galerie Conradi hatte Blattmann bedruckte Stoffbahnen über geländerartige Kupferrohre gehängt, die an der Decke montiert waren. Daneben gab es weiß lackierte Holzgestelle, die aussahen wie zerflossene Schaukelstühle. Auch in diese waren Stoffbahnen eingespannt. Nahm man diese Stoffe näher in Beschau, erkannte man in den aufgedruckten Mustern architektonische Ornamente, Hochhaussilhouetten und fußballgroße Steine, die scheinbar als Beschwerer dienten. Scheinbar, denn natürlich waren die Steine, wie all das, was zu identifizieren war, seiner Funktion und einem klar zuzuordnenden Kontext beraubt. Fragmente von Stadt, denen Blattmann wie in einem Bildbearbeitungsprogramm ihre Sättigung entzogen hatte, und die nun über- und ineinander geblendet wurden. Als hätte jemand versucht die eh schon überbordende Architektur einer Megacity in abstrakte Poesie aufzuweichen. Keine der verwendeten Materialien verwies dabei ausschließlich auf sich – immer schimmerte noch ein anderes Material oder Medium hindurch. Das Gold mancher Stoffe erinnerte an Kupfer, manche Drucke an Kohle, ihre Musterung verwies auf Scherenschnitte usw. Diese mehrdimensionale Künstlichkeit der Materialien erinnerte mich stark an einen vom Internet hergeleiteten Materialbegriff, der derzeit in Kassel recht prominent unter dem Stichwort „Anonymous Materials“ verhandelt wird. Blattmann ist wohl eine der wenigen Hamburger Künstler, die sich ohne Weiteres in diese vielbeachtete Gruppenschau einer neuen Generation von Objekt- oder Materialkünstlern eingepasst hätte.

Gespür für Material: "Rotierende Interieurs", 2012 in der Bundeskunsthalle Bonn Foto: die Künstlerin

Gespür für Material: “Rotierende Interieurs”, 2012 in der Bundeskunsthalle
Foto: Christiane Blattmann

Als Künstlerin zeichnet Christiane Blattmann aber noch eine andere Eigenschaft aus, die sie auch für die hiesige Kulturszene so wichtig macht. Sie engagiert sich nämlich weit über die eigene Arbeit hinaus. Mit Jannis Marwitz organisierte sie über ein Jahr lang die Betongalerie, mitten in St. Pauli, direkt an der Reeperbahn. Gerade an einem solchen zentralen Ort, wo zwar (noch) viele Künstler leben, Stadt und Bezirk aber verstärkt auf primitive Touristenevents (Schlager-Move, Harley-Days) setzten, sind ehrenamtliche Kulturinitiativen wie die Betongalerie besonders wichtig. Sie verteidigen, wofür Politik und Lokalpresse leider oftmals das Gespür fehlte: den subkulturelle Nährboden einer lebendigen Kunst- und Kulturszene. Doch ich hoffe, dass hier langsam ein Umdenken stattfindet. Immerhin förderte die Kulturbehörde das Projekt von Blattmann und Marwitz großzügig, woraufhin die Morgenpost leider nochmal demonstrieren musste, dass die Lokalpresse hier leider noch lange nicht das Niveau einer europäischen Millionenstadt erreicht.

Die Betongalerie war selbst eine Art Skulptur und trug den Untertitel „Türme der Hoffnung“. Was genau mit dieser Hoffnung angesprochen war, weiß ich nicht, aber ich verstand sie immer als einen hoffnungsvollen Gegenentwurf zu den „Tanzenden Türmen“ am anderen Ende der Reeperbahn. Eines der vielen Symbole für die Gentrifizierung, die diesen Stadtteil bedroht. In, auf und um das skulpturale Betongerüst fanden 2012 und 2013 viele Ausstellungen und Aufführungen mit jungen und internationalen Künstlerinnen und Künstlern statt, deren Treiben dabei nicht selten von neugierigen Passanten umringt wurde. Zu schade, dass die Galerie mittlerweile abgerissen wurde. Eine umfangreiche Dokumentation im Internet und ein ein Katalog, der bald im Textem Verlag erscheinen soll, werden denen, die die nicht dabei waren, hoffentlich das Gefühl vermitteln, etwas verpasst zu haben.

Performance in der ehemaligen Betongalerie Foto: Webseite

Performance in der ehemaligen Betongalerie
Foto: Betongalerie

Es ist aber nicht das einzige Projekt, mit dem Blattmann die Hamburger Kunstlandschaft bereichert. Mit den Künstlerinnen Anja Dietmann und Janina Krepart organisiert sie die Magazinreihe „Der Pfeil“. Wobei in diesem Fall, wie ich mir habe sagen lassen, nicht von einem Magazin, sondern von einem „Edizin“ gesprochen wird (abgeleitet von „Edition“). Die Publikation wird nämlich ausschließlich von Künstlerinnen und Künstlern mit Inhalt gefüllt und ist für diese eine Art Ausstellung im Heftformat. Jede Ausgabe hat einen Begriff zum Gegenstand, der dann in den eigenständigen Beiträgen der Künstler bearbeitet wird oder „aufgelöst“, wie Blattmann es nennt, was das Ganze auch wunderbar zurückbindet, an die ästhetischen Strategien ihrer eigenen Arbeiten. Christiane Blattmann erhält 2000 Euro und soll es ruhig als bescheidenes „Schmiergeld“ dafür sehen, nicht allzu bald nach Berlin zu verschwinden.

Auf eine weitere Publikation möchte ich an dieser Stelle hinweisen. Eine Entdeckung, auf die ich fast ein bisschen stolz bin, weil sie immer noch ein Geheimtipp ist. Aber was für einer! Still und heimlich hat sich nämlich an der Hochschule für Bildende Künste (HFBK) eine kleine Heftreihe etabliert, die es auf mittlerweile 17 Ausgaben gebracht hat. Die Rede ist vom „Freiexemplar“, das der dortige Professor für Typografie, der Niederländer Wigger Bierma, ins Leben gerufen hat. Der schrieb mir auf Anfrage auch, wie das Ganze anfing. Damit nämlich, dass er seine Progessorenkollegen fragte, welche Texte sie ihren Studierenden gerne mitgeben würden. Diese veröffentlichte er dann als kleine Hefte, die er in der Hochschule auslegte. Wie man es von einem namhaften Typografen erwartet, sind die Hefte natürlich erstklassig gestaltet und gesetzt. Umso mehr verwundert es, dass sie völlig umsonst abgegeben werden. Es gibt jeweils eine kleine Auflage von 150 Exemplaren und keine Nachdrucke. Richtige Sammlerstücke also.

Links das aktuelle "Freiexemplar" mit einem Text von W. H. Auden. Rechts: Von Matt Mullican gestaltete Ausgabe

Links: das aktuelle “Freiexemplar” mit einem Text von W. H. Auden. Rechts: von Matt Mullican gestaltete Ausgabe

Bald, schreibt Bierma, gab es auch eine studentisch geführte Redaktion, die seither eigene Vorschläge macht und Ausgaben gestaltet. So ergibt sich im Ganzen eine spannende Mischung aus bekannten Autoren und Gestaltern – wie dem amerikanischen Künstler Matt Mullican, der das Artwork für ein Heft mit Texten von Claes Oldenburg, John Baldessari und Paul Thek entwarf – und jungen Künstlerinnen und Grafikern aus dem Umfeld der Hochschule. Ich habe das große Glück, von meinen beiden „Verbindungsleuten“ an der Hochschule früh mit Ausgaben versorgt worden zu sein. Die erklärten mir auch, dass die Ausgaben dort eigentlich nur an zwei Orten auslägen (einer davon ist offenbar die Bibliothek, aber diese Information ist ohne Gewähr). Es empfiehlt sich daher, sich nach dem Abonnementservice des Hochschulverlages zu erkundigen, bei dem angeblich nur Versandkosten anfallen. Die Ausgaben sind jedenfalls immer so schnell vergriffen, dass man sich keine Hoffnung darauf machen sollte, noch ältere Exemplare zu erhalten. Kein Wunder, als Edizin ist das Freiexemplar nämlich eine Rarität unter Raritäten. An Wigger Bierma und seine Redaktion gehen 2000 Euro.

Anonymus (der oder die Kunstbeutelrägerin)

5 Gedanken zu “Echte Edizine

  1. Gut getroffen: Meines Erachtens die richtige Entscheidung, jungen Künstlern das bislang noch zu sehr auf kommerzielle Kultur fixierte Hamburg etwas schmackhafter zu machen. Denn neben Berlin sind gerade auch Köln und Frankfurt nicht uninteressant für Kreative aus der Bildenden Kunst. Ebenso sind die Kulturinitiativen ein guter Ansatz, sich auch im Kleinen einzusetzen und punktuell und temporär etwas auf die Beine zu stellen. Doch leider dauert es wohl noch, bis die von Frau Kisseler prognostizierte “erste, zarte Rückkehrtendenz” der Künstler einsetzt… Hamburg mit Stadtmarketing und Kulturbehörde muss noch kräftig an sich arbeiten, auch mit kleineren Maßnahmen kann die Stadt mit ihrer gesamten Kunst- (und auch Theater- und Musik-) Szene glaubwürdig und attraktiv angepriesen werden!

  2. …ach ja, übrigens bietet das Gängeviertel beispielsweise herrlichsten Input künstlerischer Natur, und einige HfBK’ler sammeln da prima Ideen… Nur weiter so mit der Förderung für den “Kunstwuchs”, also den Nachwuchs der Künstler! Wie lange übrigens noch? Ich dachte, es geht nur bis Dezember??
    Mit Kunstgruß, M. Ucke

  3. Also, derdiedas Kunstbeutelträgerin macht mich verrückt. Das ist zu anstrengend, das ist zu zeitgenössisch, das ist das uminterpretierte Panoptikum und schlimmer noch. Noch nicht einmal nicht wissen, wer von wo beobachtet, sondern anders: die eigene Sichtbarkeit für diesen verborgenen Blick erst noch herstellen müssen. Und dann: wie und in welche Richtung? Wie produziere ich jetzt Sichtbarkeit? Wie viel Präsenz ist Präsenz? Und was, wenn die Präsenz zu präsent wird? Präsenz gegen Present!
    Natürlich bin ich ganz cool und das System ist fair und auch spannend und Plumpsack spielen, aber HAHA, vielleicht nochmal die eigene Internetseite aufpolieren? Vielleicht mehr da sein, aber wo ist da? Vielleicht nochmal was reißen, aber damn it, gerade so im Modus der konzentrierten Schreibtischarbeit. Vielleicht nochmal entspannen und “entdeckt werden”, aber “Deponentien sind lateinische Verben, die nur in Passivform existieren, jedoch aktive Bedeutung haben!” Die kommende Absolventenausstellung der HfBK ist bald wieder so eine Gelegenheit. Alle, die da einen offiziellen Namen tragen, als Nominierte. Ich stehe dann unten an der Bar!

    • Liebe Gebeutelte,

      ich glaube, es gehört zum Witz dieser Veranstaltung, dass man sich nicht bewerben kann. Das heißt, was meine Entscheidungen widerspiegeln, ist lediglich ein bestimmter, subjektiver Blick auf die Kunstlandschaft in dieser Stadt. Auch wenn ich mich bemühe, viele unterschiedliche Veranstaltungen zu besuchen, wird mir das Meiste doch entgehen. Wie sollte es anders sein? Hamburg hat 1,8 Millionen Einwohner, und entsprechend viele Künstlerinnen und Künstler arbeiten hier. Sichtbarkeit sollten Sie also nicht meinetwillen herstellen, aber unbedingt, wenn sie denn Künstlerin sind, um ihrer Arbeit willen! Räume und Plattformen für diese Sichtbarkeit zu ermöglichen, liegt sicher auch in Verantwortung von städtischer Kulturpolitik. Darüber hinaus tragen aber auch die Künstlerinnen selbst Verantwortung dafür, mit Ausstellungen, Publikationen und Programmen auf Ihre Arbeiten aufmerksam zu machen. Das schafft man nicht immer alleine. Umso erfreulicher finde ich, dass es in Hamburg derzeit auffällig viele Gruppen und Netzwerke gibt, die gemeinsam etwas auf die Beine stellen. Man kann da ans Gängeviertel denken, aber auch an den 8. Salon, die Galerie BRD, an Projekträume wie das Hinterconti oder die Frise in Altona. Wie viel Aufmerksamkeit und Präsenz ein Arbeit dann verträgt, ist sicher unterschiedlich, liegt aber auch im Ermessen der jeweiligen Künstlerin. Wenn Ihre noch etwas Aufmerksamkeit vertragen kann, schreiben Sie am besten mal, wann und wo sie das nächste Mal zu sehen ist. Und wenn es dafür noch keinen Termin gibt, schmuggeln Sie sie einfach in die Absolventenausstellung der HfBK. Man sieht sich dann dort an der Bar…

      Anonymus (der/die/das Beuteltier)

  4. alle Beiträge hier sind so wunderbar ehrlich und verständlich geschrieben. Das, was mich immer so dursten lässt bei so vielen Artikeln.
    Wunderbar. es bereitet große Freude diese Artikel zu lesen.
    ich hätte gerne mehr davon und auch mehr 3.000 euro für junge Künstler. PRIMA Ausgaben!